Auf und raus - Performing Arts Festival Blog 2018

Auf und raus

10. Juni 2018

KRITIKEN

„Displacement“ von Ruben Reniers im DOCK11 versucht Grenzen zu durchbrechen – und zerstört zumindest einen Rahmen. 

Sie lässt sich fallen, er fängt sie auf. Er gibt einen Impuls, sie nimmt ihn an. Sie entfernen sich voneinander, finden zueinander. Sie verknoten, entknoten sich. Er hebt sie hoch: ihr Körper in der Luft. Ein Duett von absolutem Vertrauen. Ohne Blickkontakt. Gemeinsam, einsam. 

Ruben Reniers ist der Choreograph von „Displacement“, das er mit Ana Dordevic im Dock 11 tanzt. Gemeinsam und doch allein durchbrechen sie Grenzen, hinterfragen gewohnte Strukturen und überlegen: „Wie weit kann, will oder soll man sich verbiegen, um sich seinem Umfeld anzupassen?“ 

Das fängt schon bei Facebook an. Ruben Reniers steht nackt auf der Bühne, hält sich einen Zensurbalken vor seinen Intimbereich. Die Facebook-Richtlinien verbieten eine Veröffentlichung dieses Bildes, erzählt uns eine Stimme vom Band. Doch was ist mit dem Rest seiner Intimsphäre? Reniers steht in einem viereckigen Papp-Rahmen, Dordevic tanzt wenig später einen weiteren Rahmen im Raum, steckt den Bühnenrand ab, indem sie Arme und Beine streckt, ihren Körper folgen lässt, roboterhafte gegen geschmeidige Bewegungen: eine vertanzte Ambivalenz. Ein dritter Rahmen ist das Dock 11, eine Tanzspielstätte mit industriell-kargem Charme. Am Ende verschwindet zumindest einer dieser einengenden Rahmen – der aus Pappe. Dordevic zerrupft ihn in einzelne Teile. Er ist kein sicherer Ort mehr, sie war gefangen in ihm.

Dieses Befangensein in vorgegebenen Strukturen wird besonders präsent, wenn die beiden Tanzenden den Anweisungen einer Lautsprecherstimme von oben folgen. Sie sollen ein Bein nach dem anderen strecken, es mit gespitztem Fuß zurückziehen, die Arme waagerecht halten, in die Höhe strecken. Mal verwirrt, mal unsicher folgen sie der Stimme, mal korrigieren sie sich selbst. Irgendwann brechen sie unter der Forderungslast zusammen. Noch steht der große Papp-Rahmen aufrecht im Raum, bildet den Treffpunkt der beiden.

Viele schöne Bilder ergeben sich im Laufe der einen Stunde, etwa wenn Dordevic von einem aufleuchtenden Lichtkegel zum anderen rennt, sich in ihnen präsentiert. Oder wenn der angestrahlte Nebel wie ein schwarz-weißes Marmor-Muster in der Luft schwebt. Schrille, kratzende, düstere Töne von Evelyn Saylor durchdringen den Raum. Zu Beginn ertönt Tschaikowskis „Schwanensee“-Motiv, zum Ende singt Whitney Houston „Dance with Somebody (who loves me)“, während Dordevic neben den Überresten des Papp-Rahmens sitzt und Reniers sich unter einem Stuhl verkrochen hat. Wie eingefroren wirken sie. Die einzige Bewegung im Raum kommt vom Publikum: Sie wedeln sich mit ihren Flyern Luft zu im stickigen, dunklen Raum. 

Ruben Reniers und die Dramaturgin Nicole Kohlmann kreieren Bildmetaphern, die für sich allein sprechen könnten – wäre da nicht dieser große Rahmen, der ein etwas zu plakatives Bild der Einengung zu gestalten versucht. Am Ende bedeutet ihr Ausbruch fürs Publikum ein Aufbruch: raus aus dem DOCK11. Raus aus der Publikumsposition. Raus in die Welt. 

Von Aïsha Mia Lethen Bird