Nirgendwo ist Frieden - Performing Arts Festival Blog 2018

Nirgendwo ist Frieden

7. Juni 2018

KRITIKEN

Bevor man ankommen kann, muss man erst einmal fortkommen. Drei Menschen unterschiedlicher Herkunft – türkisch, kurdisch und deutsch – treffen an einer Bushaltestelle im Nichts aufeinander. Sie sprechen nicht die gleiche Sprache, aber alle möchten das Land verlassen.

Regisseur Frank Heuel erzählt in „Zwischenhalt Aradurak Rawestgeharaf“ mit Ilker Abay, Mirza Metin und David Fischer subtil über die Situation in der Türkei – und von der Sehnsucht nach Verständigung. Premiere war im Februar 2017 in Istanbul, beim PAF wird das Stück im Theaterdiscounter gezeigt. Eine Dialog-Kritik.

Eine Bushaltestelle im Nichts

Drei Plastikschalen als Sitzflächen auf einer Holzbank, links eine blaue Mülltüte an einem Holzstiel. Ein schmales Stoffdach als Projektionsfläche für die Übertitel. Stapel von Schuhkartons begrenzen zur rechten und linken Seite die Spielfläche wie Steinwälle. Manchmal schmettert ein Karton, von den Schauspielern gestoßen, quer an der Bushaltestelle vorbei. Das Bühnenbild ist karg, es gibt keinen Schnickschnack. Trotzdem mutet dem Ganzen etwas Verspieltes an.

(Mareike Dobberthien)

Um das Weggehen geht es an diesem Abend, und um das Nicht-Weggehen-Können: ums Warten. Die Bushaltestelle zählt zu jenen Orten, die eigentlich eher als Nicht-Orte zu beschreiben sind, Transitpunkte, an denen man sich nicht länger aufhält als unbedingt nötig. Nun warten also drei einander unbekannte Menschen auf den Bus, der nicht kommt, sie aber eigentlich zum nächsten Nicht-Ort bringen soll: zum Flugplatz. Man ahnt, dass sie da nicht so bald hingelangen.

(Antonia Ruhl)

Das Nicht-Verstehen als Spielprinzip

Hauptmerkmal des Abends ist die Mehrsprachigkeit und der Umgang damit. Keiner versteht die Sprache des anderen, aber die Kommunikation reißt nicht ab. So können dialogische Passagen entstehen, die zum Teil über die Handpuppe von Hay (Sermet Yesil) ablaufen und manchmal in Slapstick-Prügel-Nummern ausarten. Das sind komische Momente, denen aber auch Tragik innewohnt, wenn etwa Dav (David Fischer) einen verzweifelten Ausbruch erleidet. Das Einander-Nicht-Verstehen wird zum Spielprinzip -interessanterweise haben die Zuschauer*innen durch die Übertitelung als einzige zu allem Gesagten Zugang.

(Antonia Ruhl)

Dass die Übertitel so schnell fahren, dass gar keine Zeit bleibt, alles zu lesen, will man noch den Ausdruck der Schauspieler mitbekommen, ist nicht weiter schlimm. Die Monologe sind wie kleine Blasen in den Abend eingewoben. Sie bereichern das Stück, sind aber nicht handlungstreibend. Man kann und muss sie nicht komplett verstehen. Die Konflikte und Missverständnisse in den Dialogen lösen die drei Schauspieler mit ihren Körpern. Zum Beispiel, wenn der zierliche Dav in einem Akt der Rache dem viel größeren, von Mirza Metin gespielten Kam an die Gurgel will und ihn mit Armen und Beinen umklammert.

(Mareike Dobberthien)

Alles ist erlaubt

Im Nicht-Verstehen sind alle Figuren auf der Bühne gleich. Darum erscheint es nachvollziehbar, dass die Schauspieler in Grautöne gekleidet sind. Einzige Ausnahme sind die Schuhe: Gelb, rot und blau leuchten sie dem Zuschauerraum entgegen, die Farben, aus denen durch Mischen alle anderen Farben entstehen können. Was genau das sagen soll, bleibt unklar. Es ist eine von vielen Andeutungen, die etwas verraten können, aber nicht müssen.

(Mareike Dobberthien)

Die Bushaltestelle ähnelt einem abgeschlossenen Raum, einer Insel – wir wissen nicht genau, wo die Haltestelle ist und welche Busse hier abfahren. Auf einer Insel herrschen eigene Gesetze: Alles kann passieren, oder es passiert einfach nichts. Insofern ist auch alles oder nichts logisch. Beziehungsweise lautet die Insellogik, dass es keine nachvollziehbare Logik geben muss. So ist es folgerichtig, dass die Schauspieler alles, was sie tun, offenlegen. Wenn „von oben“ Botschaften in Schuhkartons auf die Bühne fliegen, kennzeichnen die Schauspieler das: Ja, wir sind im Theater, und wir kaschieren unsere Mittel nicht.

(Antonia Ruhl)

Im Kontext

Was beeindruckt, ist die konsequente Einfachheit des Abends. Es wird nicht klar, woher die drei kommen und warum genau sie flüchten wollen, geschweige denn, was sie sich von ihrem neuen Leben erhoffen. Die Konzentration auf die Situation tut dem Abend gut und verleiht ihm etwas Archaisches. Dazu tragen auch verschiedene Bilder bei. Wenn aus dem Off Schuhkartons mit Zettelnachrichten hereinfliegen, erinnert das an die göttliche Weissagung der Antike. Einmal wird ein Turm aus Kartons gebaut, der dann nach und nach dekonstruiert wird: ein treffender Verweis auf den Turmbau zu Babel. Vom Sturm, der Unordnung und Schaden anrichtet, ist oft die Rede – ein biblisches Motiv, das in „Zwischenhalt“ vielfach angesprochen, leider aber in seiner Auswirkung nicht plastisch wird. Oder auch die dubiose Frau Min, die alle drei zu kennen scheinen. Ist sie die „verschwundene Stadt“, die beklagt wird? Es bleibt viel rätselhaft an diesem Abend.

(Antonia Ruhl)

„Nirgendwo ist Frieden“, lässt Yesil seine Handpuppe sagen. Dann versenkt er sie in der Hosentasche und das Stück trubelt weiter. Es sind kleine Satzfetzen, die „Zwischenhalt“ immer wieder da verankern, wo es weh tut: bei der Flüchtlingsdebatte, dem türkischen Militäreinsatz gegen die Kurden, dem Atomabkommen mit dem Iran. Jetzt sitzen drei Menschen im Nirgendwo, ihre Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Es bleibt der verzweifelte Versuch, übers Handy mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben. Am Ende hängen die Figuren in einer Warteschleife des Deutschen Konsulats. Eine wohltemperierte Frauenstimme bittet die Anrufer um Geduld und fordert zum Warten auf. Plötzlich ist nicht mehr die knuddelige Holz-Bushaltestelle der Zwischenraum, sondern die Bürokratie. Man wünscht sich die konkrete Bushaltestelle zurück.

(Mareike Dobberthien)

© Produktion

Gegen die Angst ansingen

Zwischendurch verlässt jede Figur aus unterschiedlichen Gründen die Bushaltestelle. Aber aus dem gleichen Grund kehren sie alle zurück: Es gibt keinen Ort mehr, wohin sie sonst gehen könnten. Trost liegt paradoxerweise in der Sprache, in den Liedern, die die Darsteller wunderbar mehrstimmig und fein aufeinander abgestimmt singen. Im gegenseitigen Geschichtenerzählen und sogar im Lauschen der anonymen Callcenterstimme.

(Mareike Dobberthien)

„Wer singt, kann keine Angst haben“. Das gemeinsame Singen auf Türkisch, Kurdisch und Deutsch lässt eine Atempause zu, berührt. Oder wenn die Lebensgeschichten stumm, nur durch Lippenbewegung, erzählt werden: Da entsteht ein intimer, schöner, sehr trauriger Moment.

(Antonia Ruhl)

Was bleibt?

Viele Eindrücke, Querfäden, Fragen. Zum Beispiel, wer die geheimnisvolle Frau Min sein soll. Die Erkenntnis, dass Theater mit einfachen Mitteln bestens zurechtkommt. Dass Sprache mehr sein kann, als ein Gespräch: ein Märchen, ein Lied, eine Zuflucht, eine ausgestreckte Hand.

(Mareike Dobberthien)

Trotz des ernüchternden Schlusses, der die Wartenden zum Weiter-Warten verpflichtet: Es bleibt Hoffnung. Und der Aufruf, sich mutig zu verständigen! Gewiss kommt an dem Abend einiges zu kurz oder mutet sehr einfach an. Das jedoch ist eine bewusste Entscheidung des künstlerischen Teams – und sie funktioniert.

(Antonia Ruhl)

„Zwischenhalt Aradurak Rawestgeharaf“ im Theaterdiscounter läuft wieder Donnerstag, 19 Uhr.

von Mareike Dobberthien und Antonia Ruhl