Geisterstunde
9. Juni 2018
„It’s never too late” von Institutet am Ballhaus Ost.
Schwarze Stiefel schleifen Schritt für Schritt über den Boden – allein, ohne Körper, wie von Geisterhand bewegt. Die Beine des Mannes, der da auf der Bühne steht, antworten ihnen rhythmisch. Obwohl die Stiefel und seine Beine in entgegengesetzte Richtungen streben, werden ihre Bewegungen immer synchroner, bis sie im Einklang miteinander sind. Magisch ist diese Szene, intim, emotional aufgeladen, auch wenn sie keiner erzählerischen Logik folgt.
Wie überhaupt die Tanzperformance „It’s never too late“ von Institutet am Ballhaus eher durch starke Bilder denn eine Erzählung beeindruckt. Der Titel bezieht sich auf die Träume, die man nie aufgeben sollte. In einem Monolog von Andriana Seecker erfährt man, dass die Performerin als junges Mädchen Ballett getanzt hat. Als sie es mit einer professionellen Ballettkarriere versuchen wollte, sagte man ihr, dass ihr Körper die Idealmaße verfehlte: Die Arme waren zu lang, die Beine zu kurz. Eine ähnliche Geschichte erzählt uns der Andreas Catjar, eigentlich Musiker, der in der Schuldisco „etwas Traumatisches“ erlebte. Was, erfährt man nicht. Aber jetzt stehen sie beide auf der Bühne, tanzen, wagen sich auch ins Feld des jeweils anderen hervor: Sie spielt Klavier, er tanzt.
Dunkel ist der Raum, auf dessen Boden mehrere Diskokugeln und Glitzerperlen liegen, die langsam durch den Raum geistern wie später die Stiefel. Von der Decke hängt eine Schaukel, außerdem gibt es ein Soundsystem, ein Sessel, ein Klavier. Zunächst reduzieren Seeker und Catjar ihre Körper ebenso zu Gegenständen, ziehen ihre Oberkörper eng ein, klumpen sie am Boden zusammen, ein Gebilde, aus dem vier Gliedmaßen herausspreizen. Solange sich die Performer am Boden bewegen, bleibt der Raum dunkel, düster, geisterhaft. Auch die Musik verstört, bebt, entwickelt ein Eigenleben.
Wenn sich die Körper entklumpen, wieder menschlich werden, verlieren sie sich ineinander. Meistens übernimmt einer die Rolle des Lenkenden, der Andere die des Gelenkten. Einmal lehnen beide mit dem Rücken aneinander, Seeker ergreift Catjar mit beiden Armen an seinem Oberkörper und trägt ihn auf den Rücken. Dreimal packt sie an anderen Stellen zu, Bein, Bauch, Ohr, dreimal schleppt sie ihn herum.
Ein anderes Mal läuft das „Schwanensee“-Motiv als Spieluhrenmusik, Seeker tanzt zu diesem Sehnsuchtsziel aller Balletttänzerinnen im Vordergrund, Catjar lenkt sie wie eine Marionette an imaginären Schnüren. Bewegungen werden mitten in der Geste abgebrochen, abgehackt, erneut gestartet. Bei Seekers Ablehnungs-Monolog wirft sich Catjar mehrmals hintereinander auf den Boden, lässt jeden Schritt nachfedern. Bewegungen, die Schmerz reflektieren, Zurückweisung, den Prozess von Trial und Error, von Scheitern und Weitermachen.
Bei dieser Tanzperformance kommt es weniger darauf an zu deuten und mehr darauf, sich dem Bühnengeschehen zu öffnen, den Emotionen, den teils rätselhaften Bildern. Lässt man sich darauf ein? Bleibt man offen für diesen emotionalen Angriff, für ungebundene, willkürliche, zugleich intime und gefühlssatte Bewegungsabläufe? Oder lehnt man den Abend ab, weil er zu wenig Struktur besitzt? Den Zugang findet man nur, wenn man sich selbst schon einmal entgegengetreten ist. Wenn man sich auf die inneren Kämpfe einlässt, sich mit ihnen auseinandersetzt. Wenn man das bis jetzt nicht gewagt hat, dann sollte man sich trauen: “It’s never too late.”
Von Rana Eweiss