Blutroter Junimond
18. Juni 2017
Büro Steinheimer holt im Theaterdiscounter den Literaturklassiker „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann ins 21. Jahrhundert.
Eine dichte Nebeldecke schwebt im Raum des Theaterdiscounters. Links vorne liegt eine Frau auf dem Boden. Im Hintergrund läuft die Karaoke-Version von Princes Pop-Hymne „Purple Rain“. Vom Ende des langen Raumes nähert sich ein Scheinwerferlicht. Nach weniger Zeit ist die Gestalt eines Mannes zu erkennen, der den Scheinwerfer in Richtung Frau schwenkt. Er kniet sich zu ihr nieder, schnappt sich aus der Seitentasche das Mikrofon und singt leidenschaftlich den “Purple Rain”-Text – mit einer entscheidenden Änderung: Statt “Rain” heißt es jetzt “Train” (Zug).
Eine Pointe, die sitzt. Ziemlich witzig, originell, aber auch berührend holt das Büro Steinheimer die 1888 erschienene Novelle von Gerhart Hauptmann ins 21. Jahrhundert. Hauptmann erzählt von einem Mann, der seine zweite Frau erschlägt, nachdem sie seinen Sohn aus erster Ehe vernachlässigt hat und zulässt, dass er bei einem Zugunfall ums Leben kommt. Ein Stoff von tragödienhaftem Ausmaß, der hier erstmal auf den Witz des Details trifft. „Meine Damen und Herren, im Namen der Deutschen Bahn begrüßen wir Sie herzlich”, beginnen Annekathrin Bach und Felix Lücke: “Wir wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt.“ Beide Schauspieler tragen die Dienstkleidung der Deutschen Bahn: fein gebügelter (Hosen-)Anzug, rotes Einstecktuch, Logo-Manschetten.
Büro Steinheimer schaffen so eine Mischung aus Komödie und Tragödie. Mit rasanter Taktung und dynamischer Erzählweise bedienen sich die Schauspieler des Originaltextes, dessen Vortrag teilweise an Poetry Slam erinnert. Lücke und Bach verkörpern nicht nur den Bahnwärter und seine Frau, sondern auch alle restlichen Rollen. Manche Szenen werden in ICE-Höchstgeschwindigkeit über mehrere Minuten gleichzeitig gesprochen – eine erstaunliche schauspielerische Leistung.
Zugleich steckt die Inszenierung voller emotionaler Ausbrüche, die an den heutigen Gesellschaftsdruck erinnern. In einer Szene sitzt Lücke verzweifelt auf dem Boden und hat Angst etwas zu verpassen. Das bezieht sich ebenso auf die Unruhe von Hauptmanns Bahnwärter, der die Katastrophe ahnt, wie auf den gesellschaftlichen Druck heute, immer mehr schaffen zu müssen und zugleich medial überflutet zu werden.
Bei allen Bezügen zur Gegenwart gelingt es den Schauspielern immer wieder, das Publikum emotional zu fesseln, etwa durch Lückes leidenschaftliche Gesangseinlagen, mit denen der Bahnwärter ein Liebeslied für seine zweite Frau Lene singt. Herzzerreißend, wie er sich auf den Boden schmeißt, den ganzen Raum nutzt, Udo Lindenberg imitiert und vom „Junimond“ singt. So rundet sich ein starker Abend, der trotz karger Bühne eindrucksvolle Bilder für eine zeitlose Geschichte findet.
von Lisa Mutschke