Das muss man differenzieren!
8. Juni 2018
Nele Stuhlers Geschichtsaufarbeitung „Mauerschau“ in den Sophiensælen.
Die Bühne ist leer, die weißen Jalousien, die einen Raum andeuten, noch geschlossen. Dahinter, so wird sich noch zeigen, ragt eine Mauer aus hellen Quadern auf (Bühne: Julius Lehniger). Eine Person atmet tief ins Mikrofon, spricht dann los, stockend, eine Passage aus Christa Wolfs „Kassandra“. Lässt Troja und Agamemnon, Medea und Elektra auferstehen, untermalt von zarten Streichern (Sound: Samuel Schwenk). Unterbricht sich und fragt: „Wo fängt man an?“
Ja, wo fängt man an? Zumal doch eigentlich gar nicht diese Geschichte erzählt werden will, sondern eine andere und dann wieder eine andere. Und zumal man selbst nicht dabei war: weder beim Untergang Trojas noch beim Bau der Berliner Mauer. In ihrer anderthalbstündigen „Mauerschau“ in den Sophiensælen macht Regisseurin und Autorin Nele Stuhler, geboren ausgerechnet am letzten Mauergeburtstag, dem 13. August 1989 in Berlin, ihre eigene Ost-West-Erfahrung und die vieler anderer zum Thema. Auch ihr Team, darunter Dramaturgin Lisa Schettel und Schauspielerin Paula Thielecke, die die Soloperformance stemmt, stammt zum Teil aus der ehemaligen DDR. Der Plan für den Abend: „die Aufarbeitung der letzten 57 Jahre deutscher Geschichte – in 57 Kapiteln“! Glücklicherweise lautet der Plan, dass der Plan nicht aufgeht.
Man kann dieses Projekt ganz wunderbar an die Wand fahren. Würde Nele Stuhler wirklich eine eigene historische Aufarbeitung anstreben. Würde sie sich „einkitschen“, in Ostalgie versinken. Würde sie nur auf ihre eigene Stimme hören. Stattdessen hat sie viele Interviews geführt, Meinungen und Erinnerungen gesammelt und aus der Vielstimmigkeit einen sprachlich verdichteten, hochsensiblen Text entstehen lassen. Der immer wieder Zuflucht bei Mama Christa (Wolf) und Papa Heiner (Müller) sucht. Vielleicht suchen muss.
Paula Thielecke bewältigt den Text mit direkter Klarheit und zielgerichteter Energie. Als Nele stellt sie sich vor und bündelt die Geschichten, trifft jeden Ton und Zwischenton, verausgabt sich, wenn sie „Das muss man differenzieren“ als wilden Verzweiflungstanz choreografiert. Oder wenn sie Arbeiterlieder auf der Gitarre performt. Wenn sie der Mauer sowie ihrer Mutter unangenehme Fragen stellt und diese ihr mit verzerrt-nölender Stimme (live gesprochen von Nele Stuhler) antworten: Das ist jemand, der die Dinge anpackt, hinterfragt, nicht lockerlässt. Jemand, der sich selbst hineinrechnet in die Vergangenheit, sich verorten will in der Zeit.
Und dann zum 29. Aufarbeitungs-Kapitel, dem 13. August 1990, springt: Thielecke baut eigenhändig die Mauer ab. Aber bloß weil die Mauer zum Trümmerhaufen geworden ist, bedeutet das nicht, dass sie aufhört zu sprechen. Auf die Frage, warum es die DDR nicht mehr gebe, reagiert sie mit 1000 und mehr unterschiedlichen Antworten. Hier wie insgesamt an diesem Abend entstehen kluge, unabgeschlossen-offene und sehr komische Momente – und das in immer rascher werdender Abfolge: Der Unterhaltungswert steigt und steigt, schließlich folgt ein gedanklicher (Kurz-)Schluss atemlos auf den nächsten. Neles Geburtsdatum passt da so perfekt wie der Stücktitel.
Das Problem dabei: Der Abend funktioniert zu reibungslos. Etwa, wenn auf der Bühne mit ihrem zwanghaft neutralen Raum die Sehnsucht nach Absicherung überhandnimmt. Oder wenn Behauptungen nicht stehengelassen, sondern alle Situationen schnellstmöglich gebrochen werden. So wirken die erzählten Geschichten, getroffenen Schlussfolgerungen indifferent, werden einem egal. Welche Haltung haben die Macherinnen, hat der Abend? Was ist hier die Utopie: etwa das sozialistische Sommercamp? Ohne Rand, ohne Mauer?
Am Ende des Abends lüften sich – wieder mit Wolfscher Textuntermalung – die Jalousien. Am hinteren Bühnenrand wird Nele Stuhler erkennbar, sie sitzt an einem Tisch. Paula Thielecke setzt sich ihr gegenüber. Sie schauen einander an, dann lächeln sie verschmitzt ins Publikum. Wenn das doch nicht so ein schönes, sinnvolles, rundum stimmiges Bild wäre!
von Antonia Ruhl