Die Freiheit zu gehen - Performing Arts Festival Blog 2018

Die Freiheit zu gehen

20. Juni 2017

PORTRAITS

Von den 13 geführten Touren, die das PAF in diesem Jahr angeboten hat, dürfte diese diejenige sein, die den meisten Künstler*innen der Freien Szene am nächsten liegt: Tour 5 trägt den Titel „Freiheit – ein schönes Wort“. Wie frei ist die Kunst? Wie frei sind die Künstler? Lilith Jogwer ist mit durch Neukölln gelaufen.

Um zum Tatwerk zu gelangen, erklärt mir ein Passant, müsse ich am Hermannplatz vorbei, immer die Hasenheide hoch und auf der rechten Seite dann links in einen Gewerbehof einbiegen. Außer Atem und leicht gestresst stehe ich im dritten Stock in einem überfüllten Raum voll Stimmengewirr. Eine Handvoll Menschen reißt schwarzes Kreppband von den Wänden und lädt mich und alle Anwesenden ein, dasselbe zu tun.

15.15 Uhr, der Treff- und Zeitpunkt für die PAF-Tour 5: „FREIHEIT – ein schönes Wort“, begleitet von der Regisseurin und Bühnenbildnerin Maike Krause. Wir sind zu dritt: Maike, Manu, ich. Wir duzen einander.

Die erste Vorstellung ist „Clown’s Houses“ vom Merlin Puppet Theatre. Die Puppen werden von Demy Papada und Dimitris Stamou manipuliert, erklärt das Programmheft. Maike weist darauf hin, dass unsere Tour eng getaktet sei. „Keine Zeit für Trödelei, nach dem Applaus müssen wir direkt weiter“, warnt sie uns. Nur mit wenig Verspätung lassen wir uns schließlich auf das Sitzkissen in der ersten Reihe fallen.

Auf der Bühne steht eine Puppenstube in Übergröße: ein Wohnzimmer, in dem ein dicker, ungesund aussehender Mann vor einem Fernseher hockt. Von Werbung und Spaghetti, zu Fußballspiel und Fan- Schal bis zum Porno und feuchten Abenteuern genießt die Figur den alltäglichen Fernseh-Wahnsinn. Bis der Apparat den Geist aufgibt und den Mann auffrisst – ein blutiger Tod in grellblauem Licht. Nächste Szene: Eine überarbeitete Hausfrau bügelt aus Versehen ihr Kind und wischt den Kühlschrank mit dem Mopp aus. Auf einmal erwachen die Putzgeräte zum Leben und foltern die Frau, töten sie durch einen Kurzschluss.

Und so nimmt das Sterben seinen Lauf. Ein älterer Herr sitzt mit seinem Radio auf dem Balkon und durchlebt ein dramatisches Kopfkino, dass sich hinter seinen Gardinen abspielt: Eine zeternde Frau, ein rockender Teenager und ein quietschendes Kleinkind zoffen sich, bis der Kopf des Alten brennt. Einem geldsüchtigen Investmenthai fliegen die Geldbündel davon, besessen spuckt er Golddukaten. Auf dem Dach will eine manisch heulende, schreiende Frau Selbstmord begehen. Sie wird, wohl weil sie zu lange zögert, vom Mond erlöst: Wie ein Fallbeil wird sie von der Mondsichel geköpft. Ein Splatterspaß, mit leichter Hand inszeniert und performt. Das Publikum lacht und klatscht.

© Lilith Jogwer

Wir machen uns auf den Weg, bahnen uns schnellen Schrittes einen Weg durch den Trubel am Hermannplatz, suchen nach dem Bus M41, denn die Uhr tickt. Auf der Fahrt die Sonnenallee runter sprechen wir über das Gesehene. Wir sind alle zufrieden, weil das Stück, obwohl so brutal und lebensverneinend, eine raffinierte Moral vermittelt. Maike fragt sich: „Wie frei bin ich? In vier Wänden? In geschlossenen Räumen? Haben wir nicht alle eine Wahl?“
Wir fachsimpeln über Neukölln und schwelgen in Erinnerungen an alte Wohnorte. Nächster Halt: die Paul Studios in einem Industriegebiet. Dort sehen wir „Fragile Texture“ vom Paul Collective, das sich mit der Zerbrechlichkeit des Körpers auseinandersetzt. Wir werden von einem Raum zum nächsten geführt und sehen den Künstler*innen bei Tanz und Performance zu: Stepptanz, Flamenco, Ballett. Antifragile Powerfrauen treffen auf ein zartes Trio, das sich mit beigem Faden und beigen Farben durch die Performance hangelt. Sanfte, anmutende Bewegungen. Kontakt und Abgrenzung in einem lieblichen Zusammenspiel. Die Zuschauer*innen werden von Zahra Banzi, Elena Dragonetti, Jojo Hammer und Vera Köppern durch verschiedene Bewegungsabläufe und Perspektiven mitgenommen.
Im Anschluss dann ein Tiefpunkt: die Friends von Paul Collective and Friends. Sie drucksen herum: Das Publikum könne sich zu Hause fühlen, herumlaufen oder zuschauen, sich frei bewegen. Doch als die zwei Künstler*innen zu performen beginnen, versperren sie den Ausgang. So schauen wir zu, wie sie sich ausprobieren, zeichnen und sich bewegen. Dabei kommt aber nicht mehr heraus als ein verletztes Knie.
Drei Stunden soll „Fragile Texture“ dauern. Wir gehen nach einer und machen uns auf den Weg zum Heimathafen Neukölln. Wieder mit dem M41 geht es in Richtung Karl-Marx-Straße. Wir spazieren entspannt durch den Kiez, stärken uns bei Gnocchi und Malzbier, Einspänner und Apfelkuchen, reden über Wohnraum, Stadtentwicklung und künstlerische Freiheit. Kunst, die in der Sozialarbeitsecke landet, weil das mehr Geld bringt.

© Nico and the Navigators

Im Heimathafen läuft „Im Gegensatz zu dir“ von Nico and the Navigators. Der Abend fasziniert und funktioniert: Fünf Männer und die Freiheit. Der österreichische Schauspieler Fabian Kulp spielt einen jungen Mann, der nach einem Vorbild sucht und Weltschmerz und Resignation findet. Der amerikanische Tenor Ted Schmitz singt seine selbstgeschriebenen Indiefolksongs, begleitet von den Musikern Stephan Bienwald, Jan Gerdes und Phillip Kullen. Ein schönes, bewegendes Konzert mit einer Prise Melancholie und einer Menge Realitätsbezug, weil sich Kulp und Schmitz aneinander reiben, sich mit Worten duellieren, ausloten, was so geht. Kulp beeindruckt mit Ungeduld, Kraft und raffinierten Texten, Schmitz mit Stimme und Charme.

Deren Arbeit ist ein Zitat von Jean-Jacques Rousseau vorangestellt: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will“. Ein schönes Fazit dieser Tour.