„Es gibt eben nicht Schwarz und Weiß” - Performing Arts Festival Blog 2018

„Es gibt eben nicht Schwarz und Weiß”

11. Juni 2018

PORTRAITS

Das Theater Strahl will dem Rechtsruck mit dem immersiven Projekt „Das wird man doch mal sagen dürfen!“ begegnen, merkt im Prozess aber selbst, wie verflixt komplex das Thema ist.

Am Anfang steht das Trennende. Wenn die Teilnehmer*innen bei der öffentlichen Probe des immersiven Projekts „Das wird man doch mal sagen dürfen!“ den Saal des Theater Strahl betreten, haben sie die Wahl. Die Bänke des Amphitheaters sind mit Schildern in vier Bereiche eingeteilt: „Migrationshintergrund”, „Männer”, „Frauen”, „Alle”. Schüler mehrerer Berliner Klassen suchen sich hier ihre Plätze, blicken auf eine freistehende Schräge, die sich im Laufe der nächsten Stunde in Schulhof, Straße und Wohnzimmer verwandelt. Hier zeigen die Schauspieler Lisa Brinckmann, Randolph Herbst, Florian Kroop und Max Radestock vier halbwegs stereotype jugendliche Figuren, die in mehreren Szenen Themen wie Frauenbilder, Flüchtlingskrise, sexuelle Übergriffe und rechte Hetze diskutieren und auf unterschiedliche Weise auf rechtes Gedankengut ihrer Mitschüler und Freunde reagieren: Paul kommt aus einer linksliberalen Ökofamilie, sein Love-Interest Mila sagt manchmal merkwürdige Sachen. Was allerdings auch für Youtuber Hakan gilt, den Jungen mit Migrationshintergrund. Und für Caspar, der seine rechten Ansichten zunächst ziemlich gut verpackt.

Sie zeigen verschiedene Situationen, halten sie an, diskutieren mit dem Publikum mögliche Reaktionen. Die Zuschauer-Anregungen wiederum setzen sie hinterher auf der Bühne um. Szenen, die in Fragen kulminieren, vor denen auch die Gesellschaft steht: Was ist Zivilcourage? Wo liegt die Grenze zwischen Meinung und Urteil? Wie kann man rechtem Gedankengut begegnen?

Begonnen hat die Arbeit am immersiven Theaterprojekt „Das wird man doch mal sagen dürfen!“ schon vor zwei Jahren, in Kooperation mit dem Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie und 18 Jugendlichen, die sich mit Diskriminierung und Rechtspopulismus auseinandersetzten. Eigentlich sollte das Projekt jetzt während des Performing Arts Festivals Premiere feiern. Allerdings hat das Strahl-Team während der Proben gemerkt, wie komplex das Thema, wie herausfordernd die Unplanbarkeit der Publikumsreaktionen, wie groß die Gefahr ist, dogmatisch zu werden. Deshalb wurde die Probenzeit verlängert, gibt’s beim PAF nur zwei öffentliche Proben mit anschließender Auswertung. Die Premiere soll jetzt im September stattfinden. Bis dahin forscht das Ensemble gemeinsam mit Testpublikum und den Texten von Christian Giese weiter. 

© Marie Benthin

Im Gespräch mit Theaterleiter Wolfang Stüssel wird klar, warum die Sache so kompliziert ist. “Es gibt nicht die eine Lösung“, sagt er. „Wenn es zum Beispiel der eigene Onkel ist oder Freunde plötzlich Meinungen vertreten, wo man gerne was dagegen setzen würde – wie geht man damit um? Verliere ich dann meine Clique? Verliere ich meine häusliche Anbindung, die mir wichtig ist?“ Stüssel ist bei der Stückentwicklung eng eingebunden. Das Thema beschäftigt ihn, treibt ihn um. Eines der größten Anliegen des Theater Strahl war es, den Jugendlichen einen Raum zu geben, der sie einlädt zu interagieren und signalisiert: „Auch ich bin gemeint”. Wenn man das geschafft habe, hätte man gleichberechtigte Gesprächspartner und könne so eine Diskussionsbereitschaft auslösen, die im Schulunterricht oft hinten runter fällt, erzählt Stüssel.

Am immersiven Format schätzt er besonders, dass man nie weiß, was passiert, nie auf alle Eventualitäten vorbereitet sein kann, immer ein Rest Spontanität bleibt. Allerdings sei der Wunsch danach, eine eindeutige Lösung zu finden, klare Signale zu setzen, in der Lehrerschaft groß, erzählt Stüssel. Er verstehe das, sagt aber auch: “Es gibt eben nicht Schwarz oder Weiß. Wir versuchen Haltungen und Positionen zu zeigen, jedem mitzugeben: Ich bin in jeder individuellen Situation immer wieder individuell gefordert.” Dass da ein hübscher Junge auf der Bühne krasse Parolen von sich gibt. Dass Dinge nicht klar sind, uneindeutig bleiben, dass man Diskrepanzen aushalten muss.

Damit das nicht zu didaktisch wird, das Publikum dranbleibt, ist Humor wichtig, der allerdings nicht auf Kosten von gesellschaftlichen Gruppen oder Einzelnen gehen dürfe, sagt Stüssel. Entscheidend sei, wie die Inszenierung die unterschiedlichen Positionen zeige: „Wie geht ein Paul damit um, wenn ein Hakan ein anderes Frauenbild hat als er selbst? Inszenatorisch muss man da den Paul stärken, dass das Publikum beide Seiten mitkriegt.”

Wenn Schulklassen die öffentlichen Proben besuchen, sind auch im Publikum mitunter rechte Meinungen vertreten. “Wir müssen das aufnehmen, spiegeln, eine Haltung dagegensetzen, begründen, warum wir dagegen sind.” Es geht auch darum, viele verschiedene Stimmen zu hören und zu reflektieren. Eine riesige Herausforderung für die Spieler, die im Probenprozess im direkten Publikumskontakt als erste merken, wenn die geprobten Szenen, die Textvariationen nicht ausreichen.

Kritisiert wird das Team oft für die Einteilung zu Beginn in Gruppenblöcke. Stüssel jedoch sieht darin die Chance, unterschiedliche Perspektiven deutlich zu machen. Ein Bewusstsein für verborgene Hassparolen zu schaffen, Diskussionen innerhalb der Gruppen anzuregen. 

Aber warum gibt es nur vier Gruppen? Warum erhält die Sektion „Alle” räumlich den kleinsten Platz?
Auch radikale Klischees, mit denen Figuren wie Migrant Hakan versehen werden, sorgen für Kritik. So moniert ein Schüler die Verwendung des Wortes „Kanake“. Wie löst man das auf? Daran arbeitet die Gruppe hinterher konzentriert, schließlich will hier keiner Vorurteile schüren und Rollenbilder festzurren. „Wir wollen provokativ sein, aber das Provokative ist uns entglitten”, sagt Stüssel. Hinterher soll sich das Publikum fragen: „Was hätten wir gemacht? Wie hätte man da handeln können?” Um das zu erreichen, hat sich das Theater Strahl jetzt eine Atempause verschafft.

von Marie Benthin