Gegen Eindeutigkeit
2. Juni 2018
Nele Stuhler, geboren im Jahr des Mauerfalls, setzt sich in „Mauerschau“ damit auseinander, was von der DDR bleibt.
von Antonia Ruhl
Mauerschau ist ein mutiges Unterfangen. Aus erhöhter Position berichten im Drama Boten von Vorgängen, die dem Rest der Versammlung – Bühnenpersonal wie Theaterpublikum – nicht zugänglich sind. Allein die, die über die Mauer schauen oder von ihr herab, können das Geschehen überblicken. Und wissen, ob das, was sie erzählen, der Wahrheit entspricht. Ziemlich verantwortungsvoll also.
Ähnlich mutig ist die „Mauerschau“, die Nele Stuhler gemeinsam mit Paula Thielecke und Lisa Schettel in den Sophiensælen betreibt, obschon sie sich auf eine ganz andere Mauer bezieht. Premiere war bereits im Juni 2017. Anlässlich des Performing Arts Festival Berlin laufen an diesen Tagen die Wiederaufnahmeproben auf Hochtouren. In der Nähe ihres Neuköllner Proberaums sprechen die Theatermacherinnen über das Projekt, das sie nachhaltig beschäftigt – macht es doch ihre eigenen Biografien zum Thema. Ende zwanzig sind die drei, geboren in der Zeit des Mauerfalls und aufgewachsen in Ostdeutschland, Nele und Paula in Berlin, Lisa in Thüringen. Eine „Bedürfnisgleichheit“, so beschreiben sie es, hat sie zusammengetrieben – gemeint ist ein grundsätzliches Bedürfnis nach intimem Austausch und individueller Aufarbeitung. Wie gehen die Kinder der Wendegeneration mit dem „Vorher“ um? Ein „Vorher“, das sie nicht am eigenen Leib erfahren haben, dem sie sich dennoch verbunden fühlen und dessen Auswirkungen noch immer spürbar sind? Ja, die DDR war eine Diktatur, doch was kann man unabhängig davon sagen? Ohne in Ostalgie zu verfallen? „Wir wollen uns an der gängigen Geschichtsschreibung, die ja meist die der Sieger ist, abarbeiten, uns gegen konstruierte Eindeutigkeit wehren“, erklärt Lisa. Dagegen steht der Versuch, eine neue Sprache zu generieren. Und zwar, indem die eigenen Geschichten befragt werden. Das ist der erste mutige Akt. Und damit auf eine Bühne zu gehen, der zweite.
Den Proben ging ein langer Rechercheprozess voraus. Bereits vor einigen Jahren begann Nele mit der Planung des Projekts. Monatelang sammelte das Team Geschichten, führte Interviews mit Fremden wie mit engsten Angehörigen – mithilfe eigens konzipierter Fragebögen zum Verhältnis Ost – West. Lisa hat immer einen dabei. „Was denkst du als erstes, wenn du an die DDR denkst?“, steht da, und: „Was hättest du mir gerne gezeigt?“ Das klingt alles ziemlich aufreibend, vor allem in emotionaler Hinsicht. Hat man da eigentlich keine Angst? Bei einer so persönlichen Aufarbeitung? „Doch, natürlich. Anders wäre aber auch der biografische Zugriff gar nicht möglich gewesen“, so Lisa. „Umso wichtiger war es, dass die Probenarbeit zutiefst freundschaftlich verlaufen ist. Die Verbindung von kollektiver Arbeit und klarer Rollenstruktur hat dem Projekt gutgetan.“
Lisa hat die Arbeit dramaturgisch begleitet, während Nele für Text und Regie verantwortlich zeichnet und Paula als gelernte Schauspielerin die Soloperformance stemmt. Vermutlich könnten sie die Positionen reihum tauschen: In Kollektivarbeit sind sie alle nämlich erprobt, Nele und Paula haben ihre eigenen Kollektive, FUX und kollektiv eins. Bei „Mauerschau“ arbeiten die drei Frauen zum ersten Mal in dieser Konstellation zusammen, kennen sich untereinander aber schon lange – aus Volksbühnen-Jugendclub-Zeiten bei „P14“ und vom Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen. Die Freie Szene, in der sie mittlerweile so oft tätig und gut vernetzt sind, gesteht ihnen viele Freiheiten zu. Strukturell muss sich in den nächsten Jahren aber einiges tun, da sind sich alle einig. Und werfen eine Menge Ideen in den Raum: Die Förderungsgelder etwa müssten grundsätzlich für mindestens ein Jahr zur Verfügung stehen. Und vor allem wichtig: die dauerhafte Zusammenarbeit fester Häuser mit der Freien Szene.
Christa Wolf, die große DDR-Schriftstellerin, schätzen sie übrigens sehr und sehen sich in ihrer Tradition – „auch weil Intellektuelle aus Ostdeutschland bis heute unterrepräsentiert sind“, so Lisa. Die Auseinandersetzung mit Wolf solle maßgebend für das nächste gemeinsame Projekt sein, das an „Mauerschau“ anknüpfen wird: „Wir wollen weiter hingucken, weil es uns weiter interessiert.
„Mauerschau“ wird am 6. und 7. Juni in den Sophiensælen gezeigt.