Im Rausch von Bewegung und Berührung
8. Juni 2018
Tanzperformances: „Pharmakon (It radiates)“ in den Sophiensälen und „Deeper“ im Collegium Hungaricum
Die griechische Sprache hat für die Begriffe „Arznei“ und „Gift“ das gleiche Wort: Pharmakon. Denn diese im Deutschen scheinbar gegensätzlichen Begriffe liegen nah beieinander. Ob eine Substanz heilend oder toxisch wirkt, hängt von der Dosierung und der Beschaffenheit des Körpers ab. Betäubungsmittel können in geringen Dosen berauschend wirken und bei Überdosierung tödliche Folgen haben.
In einen Rausch der Bewegungen versetzt sich der junge polnische Tänzer und Choreograf Przemek Kamiński in den Sophiensälen. Bei der 35-minütigen Soloperformance „Pharmakon (it radiates)“ verbildlicht er die gegensätzlichen Reaktionen des Körpers beim Kontakt mit körperfremden Substanzen.
Kamiński gelingt dies so überzeugend, dass man bei der Betrachtung seiner Bewegungen zeitweise an filmische Darstellungen von Halluzinationen erinnert wird. Das sind kurze, harte, sich wiederholende Bewegungen. Kamiński verzerrt sich, als ob ein Fremdkörper versucht aus ihm herauszudringen. Die berauschende Musik des venezolanischen Musikers Arca verstärkt dieses Bild. Verzerrte elektronische Klänge poltern und dröhnen durch den Saal.
Doch wie auf jeden Rausch folgt Ernüchterung. Einsamkeit. Kamiński kriecht über den Boden. Er liegt langsam zuckend auf der blauen Plane, die alleine die minimalistische Bühne bildet. Sie hängt von der Decke bis zum Boden herunter, dient dort als Tanzuntergrund. Auch Kamińskis Sportklamotten schimmern in einheitlichem Blau. Lediglich seine leuchtend weißen Sneaker stechen heraus. Die blaue Leinwand soll an die Bluescreen-Technik des Films erinnern, die es erlaubt, jeden erdenklichen Hintergrund nachträglich in ein Bild zu montieren. So soll diese Leinwand als Imaginationsfläche für das Publikum dienen. Das funktioniert auch, da Kamiński jeder dargestellten Körperreaktion die gleiche Aufmerksamkeit schenkt und sie nicht wertet, sondern präzise und nüchtern ausführt.
Dass man sich nicht nur durch Bewegungen in einen Rausch versetzen kann, sondern auch durch Berührungen, zeigt die Performance „Deeper“ des Quartetts Canabarro/Molnár/Vadas/Vass im Collegium Hungaricum. Gekleidet in kompletter Motorrad-Ausrüstung kommen sich die vier bei einem Lagerfeuer näher, als sie beginnen, Zitrusfrüchte und Melonen mit ihren Helmen zu zerstoßen und den Saft über ihren Lederklamotten zu verteilen. In das orgiastische Treiben mischt sich der Geruch von frischgepresster Orange. Das wirkt bizarr, aber auch beklemmend, da sich die vier durch ihre Fetisch-Klamotten und die Helme trotz intensiver Berührungen nicht wirklich nahe kommen. Obwohl sie die gleichen Vorlieben teilen, berührt ihre Haut nur das Leder. Ihr Schweiß bleibt gefangen. Der Sichtschutz der Helme beschlägt.
Auch in der darauffolgenden postkoitalen Kuschelszene kommen sich die vier nicht näher, so stark sie auch versuchen ihre Körper ineinander zu verweben. Jede Bewegung der Verschränkung drängt nach oben. Dabei halten sie sich jedoch am Helm des anderen fest und ziehen sich dadurch wieder nach unten. Diesen vier Liebenden ist die Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse wichtiger, als die wirkliche Berührung von Haut auf Haut. „Deeper“ ist eine bedrückende und sehr eindrucksvolle Studie über die Entfremdung von Liebenden, die bei zwischenmenschlichem Kontakt nach Selbstschutz und Anonymität verlangen. Das erinnert an „Die Liebenden“ von Magritte.
Doch in der gezeichneten Szene schimmert auch Hoffnung. Marcio Canabarro und Csaba Molnár öffnen ihre Uniformierung und ziehen daraus bunte, mit Blumen bedruckte Stoffe. Sie verwandeln sich zurück in Menschen mit einem Gesicht. Zsófia Vadas und Imre Vass jedoch steht eine andere Metamorphose bevor. Canabarro und Molnár befestigen die ausgezogenen Klamotten und herumliegenden Äste mit Panzertape an ihren Motorrad-Uniformen und kreieren aus ihnen majestätisch anmutende Fabelwesen. Sind sie Sinnbild für das eigentliche Verlangen des Menschen nach einer Rückkehr zur Natur und zu einer spirituellen Erfüllung? Oder sollen diese zwei Wesen nur die Tiere darstellen, die für die Ledergewinnung sterben mussten? Zu den vielen Qualitäten dieser Ensemblemeisterleistung gehört, dass sie Assoziationsräume eröffnet, die einen nicht so schnell entlassen.
von Ludwig Obst