Im Schluchzrhythmus
18. Juni 2017
Agata Siniarska und Mădălina Dan weinen in „Mothers of Steel“ über das blutige 20. Jahrhundert und anderes.
Agata Siniarska steht da und weint. Roboterhaft und mechanisch. Sie gibt Mădălina Dan bestimmte Zeichen, das Programm auf der kleinen Leinwand zu wechseln. Eine Kindersendung. Sie weint. Ein Zusammenschnitt der besten Tore eines polnischen Nationalspielers. Sie weint. Ein Video von Ausschwitz. Siniarska weint – und bricht ab.
Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart verschwimmen an diesem Abend im Hochzeitssaal der Sophiensaele. „Mothers of Steel“ von Agata Siniarska und Mădălina Dan wird im Rahmen von INTRODUCING… gezeigt – ein kurzer Abend, der persönliches und öffentliches Trauern verhandelt und dem ein bisschen der Drive fehlt.
Die zwei Performerinnen weinen. Durchgängig. Wenn sie Hand in Hand vor dem Publikum stehen oder die zu kurzen Wäscheleinen spannen. Wenn sie Ausschnitte aus Videos sehen und die beschrifteten Blätter aufhängen. Immer sind ihre Gesichter verzerrt, ihre Körper angespannt. Exzessive Gesten unterstützen die Trauer zwischen Einsamkeit und Öffentlichkeit. Aus dem überzeichneten, trauernden Schluchzen ergibt sich hier und da ein Rhythmus, der beim Publikum gegenteilige Gefühle auslöst: Es wird offen und laut gelacht, bei allem, was da auf der Bühne beweint wird.
I WORLD WAR, II WORLD WAR, HOLOCAUST. RUSSIAN, REVOLUTION, COMMUNISM. Die Zettel, beschrieben mit den großen blutigen Momenten der Weltgeschichte „AFTER CHRIST“ werden auf – und umgehängt, während Siniarska und Dan traurige Witze ihrer Heimat erzählen: „Do you know why our country will survive the world? Because it’s 50 years behind everyone else.“
In diesem zeitlich undefinierten Raum stehen zwei Bildschirme, die die Gesichter der Performerinnen in Roboterkörpern zeigen. Sie starren emotionslos in die Kamera. Im Gegenteil erschüttern Emotionen ihre lebendigen Körper: Das Weinen entwickelt sich von dem anfänglich so mechanischen, aufgesetzten hin zu einem authentischeren Weinen, das sich trotzdem nicht ehrlich anfühlt. Erst bei dem Schlussapplaus, da sind sie zu sehen – die Tränen, die in den 50 Minuten zuvor gefehlt haben.
von Aïsha Mia Lethen