„Mich interessiert das Menschliche“
16. Juni 2017
Die Tänzerin und Choreographin Anna Aristarkhova über Entscheidungen auf der Bühne, ihre Abneigung gegen partizipatives Theater und darüber, warum sie es trotzdem macht. Ihr Stück „Obnimashki“ läuft heute im Rahmen der PAF-Nachwuchsplattform „Introducing…“ um 18 Uhr in den Sophiensælen.
Anna, Deine Arbeit „Obnimashki“, die du beim Performing Arts Festival zeigst, wird angekündigt mit einer Anleitung für eine Umarmung. Brauchen wir eine Anleitung für Intimität?
Als ich mit dem Stück angefangen habe, habe ich einfach das Wort „Umarmung“, oder „hug“, gegoogelt. Das erste, was ich gefunden habe, war wikiHow mit „how to hug“. Da gibt es ganz viele Anleitungen – für Freunde, wenn man verliebt ist, für Familie und für Männer und ähnlich absurde Dinge. Anscheinend ist eine Umarmung gar nicht so einfach wie man denkt. Ich bin dann mit einem Aufnahmegerät ins Bürgeramt in Neukölln gegangen und habe die Leute dort befragt: Ob sie gerne andere Menschen umarmen, wie oft, ob sie alle Menschen umarmen oder nur manche, ob das eine angenehme Erfahrung ist oder nicht. Manche waren ziemlich grob oder sogar aggressiv, andere waren super lieb und interessant und spannend. Ich hab sie am Ende immer gedrückt, das war schön. Im Studio haben wir dann viel mit Anleitungen gearbeitet, mit Regeln, Spielen, Aufgaben, das mache ich oft. Ich finde es spannend, wenn Zuschauer mitmachen.
Interessiert dich die Überschreitung von Bühnen- und Publikumsraum?
Eigentlich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass es in Deutschland ein krasses Berührungsdefizit gibt. Ich komme aus Russland und ich bin es gewöhnt, Menschen zu berühren. Ich dachte, das ist doch vielleicht auch schön für die Menschen, sie dazu zu bringen, sich darüber Gedanken zu machen, warum man die anderen nicht so berührt. Ich bin wirklich kein Fan von Partizipationskunst. Wenn ich selber ins Theater gehe, mag ich das überhaupt nicht, wenn man irgendwas von mir möchte. Ich habe überlegt, wie man die Menschen so einbeziehen kann, dass sie sich nicht gezwungen fühlen. Wenn niemand mitmacht, ist das auch kein Problem. Den Darstellern versuche ich immer zu sagen, dass das, was einmal passiert ist, lieber nicht wiederholt werden soll. Sie sollen lieber jedes Mal versuchen, neue Entscheidungen zu treffen und etwas Neues zu finden.
Wie wichtig ist dir diese Autonomie der Performer_innen?
Sehr wichtig. Ich hab selber lange am Staatstheater gearbeitet, wo es oft viel Hierarchie gibt und wo oft die Tänzer komplett den Spaß am Tanzen verlieren. Als Darstellerin wollte ich selber klar wissen, was ich tue auf der Bühne. Aber wenn zu wenig Freiheit gegeben wurde, wurde das ziemlich schnell langweilig, einfach die Schritte so perfekt wie möglich auszuüben. Ich liebe Menschen und ich versuche zu gucken, wer sie sind. Wie sie ticken. Und was bedeutet überhaupt Entscheidung auf der Bühne? Wir haben viel damit probiert. Das ist ein langer Prozess bis Leute sich wirklich trauen. Das ist nicht so einfach, wenn ich sage: Versuch das auf der Bühne wie eine Probe zu sehen.
Was passiert genau, wenn das klappt?
Ich bin davon überzeugt, dass ein Darsteller, der auf der Bühne denkt oder bestimmte mentale Prozesse durchläuft, eine andere Präsenz bekommt. Das Stück „Obnimashki“ ist technisch sehr einfach. Man geht nach links, dann umarmt man diese Person. Das hat das Potenzial, ziemlich leicht in eine komplett banale, simple Richtung zu fallen. Das lebt für mich nur von diesen Entscheidungen, von dieser Frische, dass die Darsteller versuchen, etwas zu machen, was der andere nicht erwartet.
Braucht Tanz für dich einen theoretischen Anspruch?
Das ist eine schwierige Frage, die mich wirklich interessiert. Einerseits: Ja. Ich glaube, als wir selber getanzt haben, hat das gefehlt, mir jedenfalls, zu verstehen, intellektuell zu denken. Am Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz (HZT) habe ich selbst viel gelesen und mir Zeit genommen, Dinge zu verstehen, die ich als Tänzerin vielleicht verpasst habe. Der Körper ist sehr intelligent. Im Tanzbereich arbeitet man oft mit Gruppen, und ich finde, wenn es mehr als fünf Menschen sind, ist das eine kleine Gesellschaft. In diesem Sinne ist Tanz schon sehr politisch.
Aber?
Ich glaube nicht, dass ein großartiges Konzept, das auf Theorien basiert, ein gutes Stück kreiert. Philosophie und Theorie, das ist im Kopf. Für mich kommt das Stück aus einem anderen Ort. Ich finde das natürlich gut, dass Leute denken und sich Gedanken machen. Aber für mich sind Philosophie und Tanz Gegensätze. Es ist spannend, sie zu verbinden, aber ich glaube, manchmal soll man einen Schritt oder eine Bewegung gar nicht erklären. Sie ist einfach da. Ich frage mich dann: Wann wird diese einfache Bewegung interessant und wann wird sie langweilig? Wie kreiert man das?
Du hast nach deiner Tanzausbildung in Moskau und Frankfurt am Main vier Jahre lang am Staatstheater Braunschweig getanzt. Anschließend hast du deinen Master in Choreographie am HZT gemacht. Hast du dich gegen das Tanzen entschieden?
Dagegen nicht. Ich liebe das Tanzen, bin dem Tanz sehr dankbar und den Erfahrungen, die ich gemacht habe. Aber mir fehlt das nicht, zu tanzen. Ich glaube, ich gehe in zwei unterschiedliche Richtungen. Einerseits mache ich Stücke wie „Obnimashki“, da ist eigentlich fast kein Tanz im traditionellen Sinn drin. Das ist performativ und sehr reduziert. Andererseits liebe ich immer noch Bewegung. Ich suche nach einer bestimmten Bewegungssprache, die nicht unbedingt auf den Codes aus dem zeitgenössischem Tanz basiert. Ich überlege, ein Solo für mich zu erarbeiten, eine Art Recherche.
Kannst du sagen, was Tanz ist für dich?
Ich glaube Tanz ist sehr vielfältig. Ich habe ein Buch, wo ich seit zwei Jahren jeden Tag aufschreibe, was Choreographie ist. Da sind mittlerweile so über dreihundert Definitionen. Tanz ist fast alles. Ich sehe Tanz überall, in jeder Art Bewegung im Zusammenhang zu anderen Bewegungen, zum Raum und zur Zeit. Ich möchte das aber nicht definieren.
Wenn man dich auf YouTube sucht, findet man ein Video, in dem du mit Anna Fingerhuth in Braunschweig über die Diskriminierung von queeren Menschen in Russland sprichst.
Diese Aktion in Braunschweig lag mir sehr am Herzen. Das hat Anna Fingerhuth initiiert, mit der ich auch oft arbeite und mit der ich am Staatstheater Braunschweig zusammen getanzt habe und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Wir haben das zusammen ein bisschen gepusht. Es war nicht so einfach, diese Aktion dort zu machen, und das hat mich sehr überrascht. Unsere Kompagnie ist international, wir waren vorher auf Tour in Russland und da kam ziemlich viel Widerstand, das hat mich sehr berührt und auch sehr wütend gemacht.
Wie macht man Tanz, der nicht heteronormativ ist?
Für mich ist das mehr eine Gendersache, glaube ich, also dass die Stücke quasi genderneutral sind. In „Obnimashki“ habe ich von Anfang an versucht, daran zu arbeiten. Wenn das zu sehr zum Fokus wird, dann kann man natürlich jede Kleinigkeit kritisieren und sagen, eine Frau darf jetzt keine High Heels mehr tragen und Rock ist nicht richtig. Das unterstütze ich überhaupt nicht, denn ich glaube immer noch, hetero zu sein und eine Frau, die High Heels trägt, ist total in Ordnung. Aber ein Mann, der einen Rock und High Heels trägt ist auch total in Ordnung. Ich glaube, sich darüber bewusst zu sein, reicht schon. Diese Frage zu stellen, wie im Fall von meinem Stück, das reicht schon.
Anna Aristarkhova zeigt ihre Arbeiten an den Sophiensælen, am Ballhaus Ost und in den Uferstudios. Aktuell arbeitet sie an einem Projekt zum Thema Lust, wofür ihr Jean-Luc Nancys Theorie zur Lust als transzendentem Zustand ebenso als Basis dient wie Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“. „Lust“ wird voraussichtlich im Mai 2018 in den Sophiensælen zu sehen sein.
von Luzi Renner-Motz