Tod im Fluß
6. Juni 2018
Mélanie Favre und Julie Botet fragen in ihrer Choreografie „Pucie“ nach Gender und Privilegien.
Mélanie Favre rauscht auf dem Fahrrad heran, wirft mir ein fröhliches „Bonjour!“ zu und stoppt kurz darauf abrupt neben den Fahrradständern. Begrüßung, Bises – sofort spürt man, wie offen und sympathisch sie einem begegnet. Eine leichte Brise frischt die sommerlichen 30 Grad im Treptower Park auf. Die kommenden zwei Stunden werden wir an der Spree mit einem anregenden und intensiven Gespräch verbringen.
Die Tanzcompagnie Sapharide wird im Februar 2013 von Mélanie Favre gegründet. 2016 schließt sich Julie Botet an, Lora Cabourg stößt für das Projekt „PUCIE“ dazu. Im Zentrum der gemeinsamen Arbeit stehe die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper auf der Bühne. In ihrem neuesten Stück „PUCIE“ versuchen sie Weiblichkeit in ganz ursprünglicher Schönheit und Erotik zu zeigen, frei von artifizieller Übertünchung. Elementar seien dabei die Möglichkeit der Mutterschaft und der Einsatz von Flüssigkeiten, beides verbunden in den von den Tänzerinnen verwendeten Wassermelonen. Damit sei natürlich nicht gesagt, dass Frauen in ihrer Rolle als Mutter erst zur Vollendung finden, erzählt Mélanie. Im Gegenteil. Frauen seien als Körper auf der Bühne präsent, ganz unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht. Allein die Möglichkeit, neues Leben entstehen zu lassen und zu geben, sei nun aber eine spezifische Eigenschaft des weiblichen Körpers.
Auf tanzästhetischer Ebene setzen die Sapharides drei Elemente ein – Shaking, extreme Langsamkeit und Zirkularität.
Im Shaking führen die Tänzerinnen schnelle, schüttelnde Bewegungen aus, die den ganzen Körper in Bewegung bringen – Brüste, Hintern und Hüften bewegen sich mit und drängen so in die Wahrnehmung des Zuschauers.
In extremer Langsamkeit versuchen die Tänzerinnen sich so langsam wie auch nur möglich zu bewegen. So entstehe ein nur scheinbar feststehendes Bild, das sich doch verändert. Als Eindruck aus der extremen Langsamkeit blieb für Mélanie Favre neben der immensen körperlichen Anstrengung, wie intensiv und empfindsam das emotionale Erleben wird. In der starken Verlangsamung nahm sie sich selbst und ihre Umgebung ungleich intensiver war, die Grenze zwischen der eigenen Person und ihrer Umgebung wurde durchlässiger. Der Mensch könne sich gar nicht emotional abschotten oder unberührbar werden.
Zirkularität sei in der Aufführung ein wiederkehrendes Element, erläutert Mélanie. So z.B., wenn sich in Phasen großer Langsamkeit Bewegungen wiederholen oder im Shaking die Tänzer sich schnell um sich selbst drehen und wie Derwische auf der Bühne erscheinen.
Der Titel „PUCIE“ ist eine Zusammensetzung aus dem englischen Wort „pussy“ und „Lucy“ – der Eigenname, den man dem Fossil einer frühen Spezies zwischen Affe und Mensch gegeben hat. Lucy starb im heutigen Äthiopien vor drei bis vier Millionen Jahren. Eine These zu ihrem Tod laute, so Mélanie, dass sie als Schwangere zu schwach war, einen Fluss zu überqueren und darauf von ihrem Stamm zurückgelassen wurde und beim Versuch ertrank, alleine durchs Wasser zu waten. Auch wenn es in „PUCIE“ nicht konkret um die Benachteiligung von schwangeren Frauen gehe, so fordere das Stück den Zuschauer doch auf, sich mit der Rolle der Frau in ihrer Körperlichkeit und möglichen Mutterschaft auseinanderzusetzen. Auch der Ertränkungstod finde sich am Schluss des Stücks, erzählt Mélanie, wenn die Tänzerinnen ihre Köpfe in den halbierten Wassermelonen bis zur Atemnot versenken.
Die Auseinandersetzung mit Lucy werde dabei zu einer Suche nach der eigenen Weiblichkeit. In den Tanzworkshops der Compagnie gelte es für die Teilnehmerinnen, ‚ihre‘ Lucy in sich zu finden. Dabei nutzen sie die genannten ästhetischen Mittel, die auch im Stück Verwendung finden.
Mélanie Favre hat ihre Tanzausbildung an einer Tanzhochschule des Centre Chorégrapique national und der Université Lille III absolviert. Der praktische Schwerpunkt lag auf zeitgenössischem Tanz. Zugleich haben aber theoretische Hintergründe einen wesentlichen Teil des Studiums eingenommen. Dabei hatte sie nie ein besonderes Erweckungserlebnis, das sie zum Tanz geführt hat. Die Begegnung mit dieser Kunst ergab sich im Kindesalter natürlich, beiläufig. Die Auseinandersetzung mit der Genderthematik ist dabei zum zentralen Thema ihrer Arbeit geworden. Dabei verfolgt sie einen sehr differenzierten Ansatz, der die Perspektive auch auf die Rolle des Mannes ausweitet. Nur so ließen sich, so Mélanie, auf traditionellen Vorstellungen von Geschlechterrollen basierende Privilegierungen und Benachteiligungen für beide Geschlechter wirksam erkennen und langfristig aufheben. Hilfreich empfindet sie dabei die Freiheit und Offenheit ihrer derzeitigen Wahlheimat Berlin. Hier störe sich niemand an ihrem seitlich abrasierten Haupthaar oder den sichtbaren Tätowierungen – in Lille z.B. können die Reaktionen da deutlich reservierter ausfallen.
„Pucie“ wird am 9. Juni im ACUD-Theater gezeigt.
von Thomas Erlenhardt