Tote sterben nicht - Performing Arts Festival Blog 2018

Tote sterben nicht

10. Juni 2018

KRITIKEN

Beeindruckend vielschichtig: „Ya Kebir!“ vom Kollektiv Collective Ma’louba im tak Theater Aufbau Kreuzberg.

Nackt rast ein Mann durch den Raum. Er packt die eben ausgezogene Unterwäsche, zieht sie sich als Maske über das Gesicht, greift sich die Wassereimer, die im Raum verteilt sind, und entleert sie mit voller Wucht über seinem Kopf, bevor er sie durch den Raum schleudert. Nicht mal der Tisch, das einzige Möbelstück im Raum, bleibt von seinem Zorn verschont. Währenddessen steht seine Schwester links mit dem Rücken zu ihm und erzählt ihre Geschichte: Von ihrer Beziehung zu ihrem Vater, den sie als attraktiv beschreibt mit seinem breiten, kräftig gebauten Körper. Wie er aber zugleich jähzornig, unbeherrscht und aufgebracht auftrat. Wie alle ihm gehorchten, weil sie ihn, den Offizier, fürchteten.

Um das schwierige Verhältnis zwischen den Generationen, um weitergegebene Traumata, um Inzest geht es in „Ya Kebir!“ vom Kollektiv Collective Ma’louba im Theater im Aufbauhaus Kreuzberg. Eine Frau sucht ihren Bruder auf, um ihm vom Tod des Vaters zu berichten. Sie will für die Beerdigung zurück ins Heimatland, das sich im Krieg befindet – er möchte sie davon abbringen. Gemeinsam geraten sie in schmerzvolle Auseinandersetzungen mit ihrer Vergangenheit und dem Trauma, das der Vater beiden hinterlassen hat. 

Dabei bewegen sie sich zwischen Realität und Fiktion. Was passiert im Hier und Jetzt? Und was nur in den Figuren, weil sie die emotionale Last nicht stemmen können? Im Wechsel zwischen den Ebenen lösen sich die Grenzen auf, als würde die Auseinandersetzung mit dem Missbrauchs-Trauma die Protagonistin durchs Leben taumeln lassen, ohne dass sie mehr zwischen Realität, Traum, und Alptraum unterscheiden kann. Als vererbte sich das Kriegstrauma weiter, das auf den Offizieren und Polizisten des Regimes lastete.

Ya Kebir heißt wörtlich übersetzt „Oh Großer!“, entspricht dem Ausruf „Oh Herr!“ und beschreibt eine Führerfigur: Vater, Diktator, Gott. Der Titel ist nur eine von vielen Mehrdeutigkeiten in Rafat Alzakouts Inszenierung. So kann beispielsweise der Satz „Er war mein Esel, auf dem ich ritt“ auf Arabisch entweder „Ich bin auf seinen Rücken geklettert und habe mit ihm Hoppe-Reiter gespielt“ oder „Ich hatte mit ihm Geschlechtsverkehr“ bedeuten. Unklar bleiben auch einige Details der Geschichte: Hatte die Schwester, die Amal Omran beeindruckend spielt, mit dem Vater und dem Bruder Sex? Oder nur mit dem Vater, während sie dem Bruder gegenüber Lust empfindet, weil er dem Vater ähnelt? Falls sie mit beiden geschlafen hat, von wem war sie schwanger? (Das Kind verlor sie als Fehlgeburt.) Diese Unklarheiten treten nicht nur auf, weil die Rede immer von einem „er“ ist und nie spezifiziert wird. Sondern auch, weil Bruder und Vater von derselben Person gespielt werden, Hossein Almoreey.

© Gianmarco Bresadola

Realität, Traum und Alptraum werden bei Rafat Alzakout Licht: Eine Zimmerbeleuchtung, wie sie die Dialoge der Geschwister begleitet, erhellt die Realität. Wenn die Frau ganz in Schwarz direkt unter einer Glühlampe im dunklen Raum steht und dem Publikum von der Beziehung zwischen ihrer Mutter, ihrem Vater und ihr erzählt, eröffnet sich ein Raum, bei dem sich Realität und Fiktion mischen. Von ihrem Vater spricht sie mit liebevoller Melancholie, reiht positive Erinnerungen aneinander, verschleiert so auch den Missbrauch: „Er war mein Ein und Alles. Mein Herzallerliebster. Er war mein Esel.“ Die Mutter, die bei ihrer Geburt fast gestorben wäre, kommt wesentlich schlechter weg: „Wenn du doch bloß totgeboren wärst!“, wiederholt die Frau die Worte ihrer Mutter. Wenn die Scheinwerfer von der Decke dann ein grelles weißes Licht werfen, wird der Raum unheimlich, geisterhaft. Da verfolgt der Bruder die Schwester, die jetzt ein weißes Kleid trägt, mit einer Kamera, wirft die Aufnahmen in Schwarzweiß auf eine Leinwand. Zugleich wird sein Gesicht auf eine Folie projiziert. 

Zum Licht kommt die Stimme, weil insbesondere die Schwester schreit, heult, singt. Mitunter alles zugleich: Einmal verwandelt sich der Aufschrei „NEINEINEINEINEIN!“ in eine melodieartigen Tonfolge, in der Schmerz, aber auch Vergnügen und Lust mitschwingt.

Die beeindruckendste Szene des Abends ist das Ende, das einen Bogen zum Beginn schlägt: Da hatte sich die Frau im blauen Anzug ihrem Bruder genähert, hält sein Gesicht fest. Sie schaut ihm einige Minuten in die Augen, bevor sie mit einer schnellen, sanften Handbewegung seinen Hals knickt, ihn tötet. Am Ende steht der Bruder nackt der Schwester gegenüber, zieht ihr gewaltsam ihr Jackett bis zur Schulter herunter. Mit einer Hand packt er ihre Brust, saugt an ihrem Arm, ihrem Hals, bevor er zu weinen beginnt. Sie hält sein Gesicht mit beiden Händen fest, wartet einige Zeit – und knickt wieder seinen Hals. Dann tritt sie hinter die Folie, man erkennt an ihrer Silhouette, wie sie sich aus- und umzieht. Dann tritt sie so lange gegen die Folie, bis sie zerreißt. Sie drängt heraus, nass, in einem roten Schleppenkleid. Eine schmerzhafte Geburt, wobei die Schleppe an die lange Nabelschnur zwischen ihr und ihrer Mutter erinnert, von der einmal die Rede ist, das Wasser an das der Fruchtblase. Mit den Worten „Die Toten sterben nicht“ verlässt sie den Raum.

Wieder bleibt die Deutung offen, vielschichtig. Sind ihr Vater, ihr Bruder tot, für sie aber noch lange nicht gestorben? Werden sie weiter ihre Seele quälen? Lebt ihr Bruder vielleicht noch, passierte der Mord nur in ihrem Kopf? Ein Alptraum? Ein Traum, den sie gerne verwirklichen würde, dafür aber die Kraft nicht besitzt? Ist sie selbst tot, so wie die Mutter es sich wünschte? Oder innerlich tot wegen all des Leids?

Viele Fragen treiben einen um, wenn man diesen vielschichtigen Abend mit seinen herausragenden Schauspielern, dem starken Text und der packenden Inszenierung verlässt. Verwunderlich ist nur, dass die Inszenierung im Programmheft als ein Stück über eine Familie angekündigt wird, die in Zeiten des Kriegs und der Revolution mit Auswirkungen von eines aus Tyrannei und Korruption geprägten Landes zu kämpfen hat. Da erwischt einen die Inzestgeschichte ziemlich kalt. Davon abgesehen zeigt der Abend eine interessante Minderheitsperspektive, die nicht jeden Tag erzählt wird. Jeder weiß, dass Krieg Traumata verursacht und Familien zerstört. Dass er aber so tief in die Seelen der Familienmitglieder eingreift, sich wie ein Parasit von ihrem Leiden ernährt, wächst und ausbreitet, sodass selbst die Lebenden tot sind und die Toten nicht sterben, wird hier auf beeindruckende Art anschaulich und nachfühlbar gemacht.

Von Rana Eweiss