Wie lange dauert eine Umarmung? - Performing Arts Festival Blog 2018

Wie lange dauert eine Umarmung?

9. Juni 2018

KRITIKEN

Pink Valley wollen mit „Zivilisierte Länder“ Zivilisation anders denken und inszenieren einen angekündigt chaotischen Abend im Theater auf dem Holzmarkt25. 

Wie zivilisiert fühlst du dich? Schon beim Kartenkauf kriegt jede*r diese Frage gestellt. Sie muss spontan beantwortet werden. Alle tragen jetzt ein bis drei gestempelte Sterne auf ihrem Unterarm. Mit Kopfhörern auf den Ohren werden sie 40 Performance-Minuten später aus dem kleinen zusammengeschusterten Theaterkasten auf das Holzmarktgelände geschickt, mischen sich unter die Menschen dort. Einige verwirrte Blicke treffen sie. Und eine Kopfhörerstimme, die sie auffordert, über einen der Menschen nachzudenken, die dort herumlaufen. Wenn wir Menschen begegnen, bräuchten wir einen Bruchteil einer Sekunde, um sie zu bewerten. Aber 6 Sekunden, um sie zu verstehen. 

Leicy Valenzuela, Valeria Germain und Nina Behrendt bilden das Performance Kollektiv Pink Valley. Laut eigenen Angaben bearbeiten sie „Fragen zu Menschlichkeit und kultureller Identität“. In „Zivilisierte Länder“ nehmen sie sich der Frage an: Was bedeutet es zivilisiert zu sein? Sie haben die Welt bereist, um immer und immer wieder diese Frage zu stellen. Das Ergebnis wollen sie in ihrer Performance im Ding Dong Dom Theater vom Holzmarkt vorstellen. Es wird ein Chaos versprochen – und dieses Versprechen gehalten. 

Zunächst sitzen die Zuschauer*innen auf Bierbänken in dem aus Fenstern und Holz gezimmerten Theaterraum. Zu Beginn stehen Germain und Berendt in pompösen Kleidern auf kleinen balkonartigen Vorsprüngen, seitlich über dem Publikum. Bis sie ihre Kleider herunterlassen – und sich gleich darauf an einem Seil auf die Spielfläche, die ein Kreuz bildet. Wir sind jetzt alle auf einer Ebene. Alexander Maulwurf steht an einem mit Spiegel-Kacheln beklebten DJ-Pult und liest Episoden der chilenischen und der deutschen Geschichte vor. Christa Berendt-Hein sitzt im Publikum, schüttelt den Kopf und steht auf: So stimmt das nicht! Der 9. November 1989 habe bei ihr komische Gefühle ausgelöst. Da war kein Jubeln, keine Freude. Eigentlich nur Fragen: Wie geht es jetzt weiter?

Fragen werden viele gestellt an diesem Abend. So zum Beispiel, wenn Berendt-Hein und Valenzuela in ihrem persönlichen deutsch-chilenischen Geschichtsaustausch Parallelen erkennen und die aus Steinen gelegte Mauer in der Mitte des Raumes durchbrechen. Sie umarmen sich. Lange halten sie einander fest, während Germain und Behrendt fragen: Wie lange dauert eine Umarmung? Was denkt sie gerade? Recycelt sie ihren Müll? Geht sie bei Aldi oder LPG einkaufen? War sie schon mal gewalttätig? Was weiß ich über mein Gegenüber?

Und weiter geht’s mit den Fragen, mal auf Deutsch, mal auf Englisch, mal auf Spanisch: Was ist die größte Errungenschaft in der westlichen Zivilisation? Warum haben wir uns entschieden in diesem Leistungs- und Effizienzdruck zu leben? Aus Angst vor dem Tod?

Die Darstellerinnen laufen durch den Raum, werden immer schneller und ahmen Menschen im Publikum nach, vielleicht um sich in sie einzufühlen. Das Chaos repräsentiert die Komplexität der Fragen. Diese jedoch verlieren sich in Bewegungen, in Schnelligkeit, in Flüchtigkeit. Warum sind wir hier? Worum geht es? Der kleine Luki, Sohn von Valenzuela, ist Teil des großen Durcheinanders und zieht mit seinem verschmitzten Lächeln die Blicke auf sich. Er antwortet: um Empathie. 

Wenn die Zuschauer*innen nach den 40 Minuten im Theaterraum draußen den Stimmen aus den Kopfhörern folgen, werden sie selbst aufgefordert, diese Empathie zu empfinden. Gemeinsam und doch allein stehen sie als individuelle Gruppe vor der Spree. Das erinnert an Rimini Protokolls Audiowalk „Remote Mitte“ und öffnet die persönliche Ebene: Können wir Gewohnheiten, die uns fremd sind, mit den Augen des Anderen sehen? Können wir uns selbst von Außen wahrnehmen? Pink Valley fordert einen Perspektivwechsel im doppelten Sinne: Die Zuschauer*innen sind jetzt die Protagonisten des Stückes. Wir fühlen uns in andere Menschen ein. Im besten Fall zumindest. 

Das Kollektiv will in seiner*ihrer Performance Zivilisation anders denken. Zivilisiert sein, das bedeute nicht, gebildet zu sein oder Manieren zu haben. Zivilisiert sein bedeute menschlich zu sein. Empathie zu empfinden. Sich in Andere einzufühlen. Ein schöner Gedanke. Aber was bleibt? Natürlich die Frage: Wie würde diese empathische Welt dann aussehen?

Von Aïsha Mia Lethen Bird