„Wir wissen einfach nichts“ - Performing Arts Festival Blog 2018

„Wir wissen einfach nichts“

5. Juni 2018

INTERVIEWS

Lydia Ziemke und ihre Gruppe suite42 zeigen beim PAF Dea Lohers „Land ohne Worte“ und „Yousef war hier“. Ein Gespräch über Inszenierungsstrategien, arabische Kulturen und die Herausforderungen der Sprache.

Auf der Startseite von suite42 steht ein Zitat von Paul Eeerik-Rummo: „Alles ist Antwort, wüsste man nur die Frage.“ Mit welchen Fragen hast du dich beschäftigt, als du „Land ohne Worte“ 2009 inszeniert hast?

Bei „Land ohne Worte“ war die Attraktion des Textes, dass sich die Autorin und die Protagonistin mit der gleichen Fragestellung auseinandersetzen wie ich. Wie kann ich mit meiner Herkunft – als Berlinerin, Deutsche, Ostdeutsche – damit umgehen, dass ich in Krisenregionen, in Kriegsgebiete fahre und das meine künstlerische Arbeit beeinflusst? Was ist meine Verantwortung und was sind meine Möglichkeiten über diese Gegenden zu erzählen? Mit welchen Methoden, auf welcher Art und Weise, von welchem Standpunkt aus? Dea Loher hat das gleiche in Afghanistan gemacht. In ihrem Stück hat sie eine unglaublich ehrliche Art gefunden sich selbst zu befragen und diesen Prozess sichtbar zu machen. Ihre Antwort ist, dass man den Schmerz zulassen muss und auch die Freude – wir müssen wissen, dass der Schmerz existiert und dass wir damit verbunden sind und wie, aber wir müssen auch unser eigenes Leben leben, um starke Gesprächspartner in diesen Konflikten zu bleiben. Wir spielen das Stück auch neun Jahre später noch, weil es immer noch unsere Inspiration ist.

Warum sind Fragen ausschlaggebender als Antworten?

Wenn ich selbst im Theater bin, möchte ich angegriffen werden, möchte ich auf- und angeregt werden, selber zu graben und mir davon zu nehmen. Ich will es nicht beschenkt bekommen, sondern ich will einen Raum geöffnet bekommen, in dem ich mir Sachen geben kann, die mit mir zu tun haben, aber auch Sachen als Werkzeug zum Verständnis meiner Selbst und der Welt, die mich umgibt und die ich vielleicht noch nicht kenne.

Warum hast du suite42 gegründet?

Nach der Assistenzarbeit an einem großen Stadttheater in Berlin wollte ich etwas Neues starten, weil ich die Atmosphäre dort sehr kontraproduktiv und für junge Leute nicht hilfreich fand. Auch in Großbritannien hatte ich schon in Staatstheatern gearbeitet. Diesen Weg zu gehen stand mir aber nicht richtig offen, weil die staatliche Schauspielschule, an der ich dort war, zwar sehr berühmt, aber nicht so gut ist. Sie hat nicht dafür gesorgt, dass wir mit Intendanten ins Gespräch kommen oder mit anderen Theatern erste Erfahrungen machen können. Ich habe sie mir immer selber gesucht. Deshalb war der Schritt zum freien Arbeiten, zur eigenen Kompagnie nicht so schwer. Natürlich musste ich mich mit den Subventionsmöglichkeiten in Großbritannien und in Deutschland auseinandersetzen.

Warum hast du dich so intensiv mit der arabischen Kultur beschäftigt?

Die Gründung von suite42 wurde durch ein einjähriges Stipendium vom British Council 2010 anschubfinanziert. Gemeinsam mit 30 Menschen aus 30 anderen Ländern durfte ich ein Jahr machen, was ich wollte. Da waren alle arabischen Länder dabei und deswegen kam es ganz früh dazu, dass wir uns besuchen konnten. Damals sind meine jetzigen Arbeitsbeziehungen entstanden, etwa mit Mohamed Al Attar, dem Autor, mit dem ich gerade arbeite. Außerdem mache ich im Deutschen Schauspielhaus Hamburg ein Projekt mit einer libanesischen Gruppe, die ich damals kennengelernt habe. Und im Sommer arbeite ich mit einem palästinensischen Schauspieler und Autor – auch ihn kenne ich von damals.

Dann war also alles Zufall?

Eher Schicksal? Es sind ja zwei Dinge: Es sind sehr schöne Sachen passiert, nämlich Begegnungen. Aber es ist auch sehr viel Scheiße passiert, nämlich der 11. September und dann der Irak immer wieder, Afghanistan immer wieder, der Abkehr von der palästinensischen Idee in der Europäischen Linken, Gaza immer wieder, Syrien. Zufall war vielleicht, dass ich in der Region unterwegs war, in der sehr viel zu brodeln begann. Dass ich 2011 eine Produktion mit dem syrischen Autor Mohamed Al Attar über die Frage gemacht habe, ob eine Revolution stattfinden sollte, als die Revolution stattfand. Seitdem sind wir in Kontakt. Er ist im Exil und wir sind die ganze Zeit in Kontakt. Aber wenn die Begegnung nicht so persönlich und künstlerisch reichhaltig gewesen wäre, wäre es dazu nicht gekommen.

Hattest du dich vorher mit der Nahost-Politik beschäftigt?

Eben überhaupt nicht!

Wie begann dann deine Beschäftigung?

Das hat mit dem Zitat aus deiner Eingangsfrage zu tun: Ich habe gemerkt, ich weiß nichts, NICHTS!, über Palästina. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein: Ich weiß alles über Israel, aber nichts über Palästina. Wegen meiner Sozialisation hier in Deutschland. Ich habe meine blinden Flecken plötzlich so ganz klar gesehen. Wir wissen einfach nichts, sind ignorant und rassistisch in diesem Land. Punkt.

Warum macht suite42 beim PAF überhaupt mit? Ihr seid ja nicht ganz unbekannt.

Das liegt daran, dass wir mit dem TAK eine Spielstätte haben. Ich bin gespannt, wie das während des PAF wird, wenn so viele gleiche Sachen gleichzeitig laufen. Ich kann noch nicht sagen, ob sie sich gegenseitig befruchten. Aber wir sind als Kompanie in das Theater Aufbau Kreuzberg eingezogen und Teil des Konzeptes des Theaters ist, dass unsere Arbeiten hier ankommen und hier gezeigt werden. Das Performing Arts Festival ist ein Moment, wo das etwas gebündelter passieren kann. Finanziell ist das sehr, sehr schwierig. Deswegen haben wir auch Stammgäste eingeladen, die eine Finanzierung haben für ihre Produktion. Ich finanziere „Land ohne Worte“ aus den Kompaniegeldern. Das andere Stück „Yousef war hier“ hat eine ganz andere Finanzierung. Eine weitere Produktion, die wir zeigen wollten, kann nicht gezeigt werden, weil sie keine Finanzierung bekommen hat.

Gab es mehrere Inszenierungsversionen von „Land ohne Worte“, bis du zur Endfassung gekommen bist?

Nein. Es gab eine lange Suche nach Mitteln. Und sehr viel Textarbeit. Ich habe das mit einer englischen Schauspielerin erarbeitet, die jetzt auch hier in Berlin spielen wird. Ich habe mit ihr eine Woche nur Sprechen gelernt, weil die Engländer immer denken, wenn sie sprechen, müssen sie auch fühlen. Das ist blöd, weil sie dann nämlich die Antworten geben und nicht nur Fragen in den Raum stellen. Deshalb habe ich mit ihr geübt, einfach Worte zu sagen, d.h. einfach nur Worte in den Raum zu stellen, ohne sie zu zerpflücken, ohne sie mit unheimlich viel Gefühl zu füllen. Das ist sehr wichtig bei diesem Stück. Dann haben die Bühnenbildnerin, die Schauspielerin, der Musiker und ich zwei Wochen erlebt, die wie ein Rausch waren. Wir wissen nicht mehr, welche Idee von wem kam. Aber plötzlich hat alles so ineinander gegriffen. Eine gemeinsame Geburt.

Ohne zu viel zu verraten: Wie setzt ihr „Land ohne Worte“ um? Einen Aspekt hast du schon benannt: das Sprechen ohne Gefühle.

Weil der Text alles macht! Der Text gibt die Gefühle. Die Autorin imaginiert sich selbst als Malerin im Text und wir imaginieren die Protagonistin als Bildhauerin, um es dreidimensional zu machen. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip: dass die Erfahrungen, die die Protagonistin macht, sowohl auf ihrem Körper als auch in ihrer Arbeit sichtbar bleiben. Sie arbeitet mit einem weißen Material und bringt ein dunkles Material von der Reise mit. Fortan ist ihr Material damit verbunden, denn ist es sieht anders aus. Wir arbeiten sehr viel mit Materialien, die Spuren auf den Menschen hinterlassen. Die kommen auf den Körper, wieder runter und dann wieder rauf. So hat man zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bilder: manchmal nass, manchmal sauber, manchmal dreckig. Am Ende sieht man das Innenleben auf der Haut. Darüber kommt wieder ein Kostüm, um zu sagen: Ich kann jetzt in eine Vernissage gehen, aber meine Erfahrungen habe ich nicht ignoriert, ich habe sie besucht – und dadurch sind sie sichtbar.

Hast du je ein Stück inszeniert, bei dem der Text nicht auf Deutsch oder Englisch war?

Einmal, in Marokko. Da sprechen sie Französisch, Arabisch und Tamazigh – das ist der Überbegriff für die dortigen Berbersprachen. Ich habe Französisch wegen Marokko, Libanon und Algerien gelernt. Es war letztendlich ein dreiwöchiger Workshop, an dessen Ende wir eine kleine Inszenierung hatten. Da war es ganz wichtig, dass die Schauspieler*innen mit dem Trauma arbeiteten, dass die Berbersprache eine lange Zeit in Marokko verboten war und erst 2003 wieder legalisiert wurde, als ihre Eltern und Großeltern diese Sprachen – gibt drei Hauptsprachen – allmählich wieder anwenden konnten. Dass sie diese Berbersprachen auf der Bühne sprachen, war für sie das erste Mal und deshalb war es sehr besonders.

Wie seid ihr in den Proben mit der Herausforderung umgegangen, mit all diesen Fremdsprachen zu arbeiten?

Es war ein komplett improvisiertes Stück. Ich hatte mit den Schauspieler*innen Improvisationsregeln verabredet. Wir hatten bestimmte Szenen, aber wir wussten nicht, welche wann anfängt. Die Regel war: Wenn jemand die Initiative ergreift, dann wissen andere, dass das und das jetzt passiert, also mache ich das. Deshalb mussten sich nicht alle verbal verstehen, sondern es ging erstens über Aktion. Zweitens ist das für mich total angenehm, weil ich andere Sachen verstehe. Für mich ist es wichtig, die nonverbalen Ebenen rauszuarbeiten. Das ist eine wahnsinnig sensible Arbeit, macht Spaß und ist auch noch eine totale Bereicherung.

Was sollen die Zuschauer im Idealfall von „Land ohne Worte“ mitnehmen? Und mit welchen Erwartungen sollen sie reingehen?

Erwartungen: Angegriffen werden. Dafür offen sein. Es ist ja alles sehr poetisch. Entweder kommt es an oder nicht. Aber die Sprache ist schon sehr, sehr gut. Mitnehmen? Die eine Sache: Ich bin hier und dort passiert der Mist. Das kann irgendwann hier passieren und deswegen muss ich das wissen. Ich muss es auch wissen, um Mitgefühl und Klarheit zu haben. Mein Leben trägt zwangsläufig dazu bei. Aber ich kann mich nicht damit aufhalten Schuldgefühle zu haben oder irgendwie die Menschen kleinzumachen, indem ich denke: „Ihr seid Opfer! Und ich bin reich und ich fühle mich beschissen.“ Sondern zu sagen: Okay, ihr habt euer Ding und ich habe mein Leben und das ist gut so. Ich lebe es so verantwortungsvoll wie ich kann, aber ich sehe euch. Wir sind auf Augenhöhe.

Lydia Ziemke, wuchs in Caputh, Brandenburg auf und studierte  Altphilologie und Regie in Großbritannien. Seit 2006 teilt sie ihre Zeit zwischen Berlin und London auf, wo sie als selbstständige Regisseurin und Dramaturgin tätig war. Nach Reisen in viele arabische Länder kam sie zurück nach Berlin und führt jetzt eine internationale Theaterkompanie namens suite42, oft in Zusammenarbeit mit arabischen Künstlern. Die erste Inszenierung von suite42 war Dea Lohers „Land ohne Worte“, die seit 2009 international tourt, wird in diesem Jahr im Rahmen des Performing Arts Festivals Berlin 2018 in zwei Sprachen aufgeführt. Außerdem wird „Yousef war hier“ (am 6.6. um 18 Uhr) gezeigt, die dritte Zusammenarbeit mit dem syrischen Autor Mohammed Al Attar.

Von Rana Eweiss