In der Haut des Mörders - Performing Arts Festival Blog 2018

In der Haut des Mörders

3. Juni 2019

KRITIKEN

Prinzip Gonzo schickt sein Publikum mit „Fleck und Frevel“ im Ballhaus Ost durch eine Reizüberflutung nach Dostojewski.

In einer Zelle sitze ich an einem kleinen Tisch, mir gegenüber ein genervter Wachmann mit vernarbtem Gesicht. Grelles Neonlicht blendet mich, es ist sehr stickig und heiß, da hilft auch der kleine Ventilator in der Ecke nicht. Im Hintergrund ist das Stimmengewirr der anderen Teilnehmer*innen und Schauspieler zu hören. Barsch fordert mich mein Gegenüber auf, meine Papiere vorzuzeigen: Rodion Romanowitsch, Wohnung 6, Haus Lippewechsel.

Für zwei Stunden sind wir eben dieser Protagonist aus Fjodor Michailowitsch Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“. Wir, die Zuschauer*innen, die hier nicht bloß schauen, sondern elementarer Teil der Performance „Fleck und Frevel – ein immersives Verbrechen an Dostojewski“ vom Theaterkollektiv Prinzip Gonzo sind. Das Ballhaus Ost hat sich in das Sankt Petersburg des 19. Jahrhunderts verwandelt, durch dessen Straßen und Zimmer wir wandeln und daran teilhaben, wie ein Mord aufgeklärt wird.

Mit verbundenen Augen und ausgestattet mit einer Bauchtasche werde ich tief hinein geleitet in dieses Labyrinth aus Figuren und Räumen. Eine Stimme flüstert mir ins Ohr und hilft mir, meinen Weg über Schwellen und durch Vorhänge zu bahnen. Ich höre Stimmen, ein Rauschen, Schritte. Ein süßlicher Duft dringt mir in die Nase, aber nichts Konkretes, an dem ich mich orientieren könnte. Dann sind ich und mein anonymer Begleiter am Ziel. Ich werde aufgefordert die Augen zu öffnen und bin allein.

Wo bin ich? Wer bin ich? Ich weiß es nicht. In meiner Bauchtasche sind ein Ausweis, der zumindest meine Identität aufklärt, einige Geldscheine und eine Vorladung zur Zeugenaussage. In meiner  Reizüberflutung weiß ich nicht, wo ich zuerst hingehen, was ich mir anschauen soll. Was genau meine Rolle ist, ist mir zunächst nicht ganz klar. Ein wenig hilflos wandele ich durch die Räume. Wer ist Schauspieler und wer Zuschauer? Die mit den Bauchtaschen sind anscheinend Zuschauer. Ob alle den gleichen Inhalt haben? Es dauert eine ganze Weile, bis mir klar wird, dass wir alle die gleiche Rolle spielen. Wir alle sind Rodion Romanowitsch Raskolnikow.

Überall erhasche ich Gesprächsfetzen, aber keine Informationen, die mich weiterbringen. Zum Glück scheine ich nicht die einzige zu sein, die ein wenig hilflos und verwirrt ist. Es gibt so viel zu entdecken: Arbeitszimmer in unterschiedlichen Stadien der Verwüstung, eine lange Tafel mit Unmengen von Obst, Gemüse und Blumen darauf, eine Bar, ein Salon, einen Tatort mit Blut an den Wänden und auf den Möbeln, einen Raum, der völlig mit Buchseiten und Zeitungsausschnitten tapeziert ist.

Hier wird man in Gespräche mit den anderen Charakteren verwickelt oder kann Dialogen lauschen. Wird es einem zu wirr, zu langweilig oder zu anstrengend, kann man einfach weitergehen. Mit der Zeit wird mir die Handlung klarer, ebenso die Beziehungen der Figuren zueinander. Doch ein Gefühl der Überforderung bleibt bis zuletzt. Wohin als nächstes? Was erwartet mich noch? Wer ist der Mörder? Zu viel ist es, was man verpassen kann, wenn man zu lange bei einer Figur bleibt. So habe ich am Schluss auch immer noch einige Handlungslücken. Ein Blick in den Roman zur Vorbereitung ist zu empfehlen, aber nicht unbedingt notwendig. Es wird freigestellt, wie weit man nur Zuschauer*in bzw. Zuhörer*in sein oder partizipieren möchte.

Ganz ums Mitmachen herum kommt aber niemand. Am Ende wird Rodion Romanowitsch wegen zweifachen Mordes verhaftet und in ein Arbeitslager nach Sibirien geschickt. Ich kriege einen Stempel in meinen Pass und werde von einem Polizisten hinausgeleitet. Raus aus Sankt Petersburg, wieder nach Berlin. Von der Empore darf ich einen letzten Blick auf das Wirrwarr aus Stellwänden, Vorhängen und Körpern werfen, die nun ebenfalls nach und nach abgeführt werden. Prinzip Gonzo gelingt es für zwei Stunden eine neue Welt zu erschaffen, in die man eingesogen wird und aus der man allein nicht mehr rauskommt. Sie nimmt mich mit allen Sinnen ein; verwirrt, berauscht, verstört und belustigt. Teilweise ist es schwer, sich der Handlung und der eigenen Rolle komplett hinzugeben, da die Überforderung durch all die Eindrücke doch zu groß ist. Völlig gewinnen konnte mich diese Welt nicht und ich bin ein wenig erleichtert, als ich wieder in die Berliner Abendluft treten kann.

Von Greta Haberer

Foto: Anna Eckold